Arbeitshosen und Kittel

 

Einige Wochen trug ich in meiner Arbeitshose eine kleine Glasmurmel mit mir herum. Diese Kindermurmel mit dem bunten Einschluss der wie ein Fähnchen im Wind im starren Glas schwebte, fand immer wieder in meine Hand. Beim Arbeiten sah ich sie zwischen den Gehwegplatten hervorlugem und steckte sie ein. Sie erinnerte mich an meine Kindheit in der ich die Murmeln zwar besaß, aber schon niemand mehr damit spielte. Und so trug ich sie über Wochen in meiner Hose. Steckte ich die Hand in die Tasche, zog ich sie kurz heraus, besah und befühlte sie und liess sie wieder zurück rutschen. Sogar einige Wäschen überlebte sie, ohne herauszufallen bis sie irgendwann wieder verloren ging. Das ist eines der unzähligen Phänomen von Arbeitshosen. Dinge können in den Hosen temporäre Aufenthaltserlaubnis erhalten und irgendwann wieder unbemerkt verschwinden.

Die Taschen von Arbeitshosen lassen sich anders nutzen, als die von sogenannten „Ausgehhosen“, in denen sich nie interessante Gegenstände finden. In Arbeitshosen hingegen spiegelt sich der Arbeitsalltag der letzten Wochen wieder. Eine Zeitlang trug ich ständig eine neongelbe Schnur in meiner Hose mit mir herum. Diese verband sich im dunklen mit Stöckchen und Taschentüchern und kämpfte mit Schrauben wie Laokoon mit der Schlange. Theoretisch befand sich die Schnur in meiner Hose um in Arbeitspausen Knoten zu üben. Zwei Knoten kann ich, den Mastwurf und den Kreuzknoten. Beide lernte ich nicht mit dieser Schnur. Diese blieb, bis auf kurze Exkursionen an die Frischluft, an ihrem warmen Platz  und irgendwann verschwand sie, wie die Murmel, ohne jemals ihren Zweck erfüllt zu haben. Arbeitshosen und Arbeitskittel bilden also ein in sich stabiles Biotop, welches unabhängig von der restlichen Kleidung existiert. Dabei können zwei verschiedene Entstehungsgeschichten der Hosen extrahiert werden. Entweder werden sie gekauft, dann ähneln sie in ihrem Weg dem Arbeitskittel. Beide sind bewusst für bestimmte Tätigkeiten ausgesucht worden. Oder eine „Ausgehhose“ wird zur Arbeitshose herabgestuft um bis zu ihrem völligen Ableben noch genutzt zu werden. Meist werden sie jedoch gekauft und über den Versandhandel bestellt. Früher zog ein Händler über die Dörfer und bot den Handwerkern und Landwirten strapazierfähige Arbeitskittel, Gummistiefel und Handschuhe zum Kauf. Heute geht man auf die website der grossen Arbeitskleidungshersteller.

Die Entscheidung für ein bestimmtes Kleidungsstück ist von größerer Tragweite als es auf den ersten Blick scheint und viele, auch wandelbare Parameter sind zu beachten. Angefangen bei der Größe. Eine Arbeitshose darf keinesfalls irgendwo zu eng sein oder zwicken. Auch nicht, wenn der Träger den jahreszeitlichen Gewichtsschwankungen unterliegt. Ist sie jedoch zu groß, bleibt man eher mal an herausstehenden Nägeln oder ähnlichem hängen und sie reisst. Sie darf also weder schlabbern noch kneifen. Bei der Anprobe muss daher jede mögliche Verrenkung bereits vollzogen werden um auftretende Ungemütlichkeit bereits vor dem Kauf auszuschließen. Im Laden stehen Männer und Frauen jeden Alters auf einem Bein, das andere, je nach Beweglichkeit, angewinkelt unter den Bauch gezogen, oft erstaunlich ausbalanciert, andere wippen hingekniet auf den Fussballen oder lassen ihren Oberkörper nach vorne Richtung Zehen kippen. Bei Kitteln werden kreisende Bewegungen mit den Armen vollzogen und die Schultern nach hinten gedrückt. Dies ist keineswegs ein groteskes Ballett, sondern, wie gesagt, essenzieller Bestandteil der Entscheidungsfindung. Hinzu kommen individuelle Bedürfnisse. Manche ziehen Latzhosen vor, damit das sogenannte Bauerarbeiterdekollete nicht zum Vorschein kommt. Kniet man, rutscht das T-shirt Richtung Rücken und die Hose nach unten und es zeigen sich die Ansätze des Gesäss mit seinen Rundungen wie das Äquivalent zum weiblichen Dekollete. Daher der Name „Bauarbeiterdekollete“. Frauen ziehen es jedoch meist vor, trotz der Gefahr dies zu entblößen, keine Latzhosen zu kaufen. Der Toilettengang kann durch Latzhosen stark beeinträchtigt werden.  Es vergeht viel zuviel Zeit bis man die oben an die eigentliche Hose angenähten Latzdinger loswird, am allerschlimmsten wenn sie unter einem Pullover, anstatt darüber getragen werden, sie vor sich in den seltenst sauberen Boden schmeisst, bereits hüpfend, weil dieses ganze Rumgezuppel schon viel zu lange braucht um sich endlich setzen zu können und  dann mit ein bisschen Pech das Rückenteil in der Schüssel versenkt hat. Daher mein Appell an alle Frauen die sich ihre erste Arbeitshose kaufen: Finger weg von Latzhosen! Ein weiterer relevanter Punkt sind Größe und Anzahl von Hosentaschen oder auch Kitteltaschen. Bei beiden sind Taschen nicht nur bloße Aufbewahrungsmittel für Kleinigkeiten sondern die Essenz der Hose. Sie spiegeln ihren Träger und dessen Gefühle, bis hin zur hierarchischen Position in der Arbeitswelt wider. So ist etwa das Versenken der Hände in den Hosentaschen ein Privileg der arbeitenden Senioren. Diese haben bereits lange genug geschippt, und Schraubenschlüssel und Hämmer in den Händen gehalten. Die Handflächen sind warm und hart. Sie haben es sich schwer erarbeitet neben den vor sich auf den Knien rutschenden Nachfolgegenerationen Kommentare und Tipps abzugeben, die Hände in den Taschen. Der Lehrling  hingegen darf dies keineswegs, auch wenn er ungebraucht neben dem Meister steht, noch zu grün, um mitzuhelfen. Rutschen seine Hände in die Taschen, wird er umgehend gerügt. Er steht meist mit hängenden Armen im Stand-by Modus um Aufträgen, sollten diese an ihn gerichtet werden, sofort nachkommen zu können. Meister und Gesellen verschränken die Arme vor der Brust oder stützen diese im Fachgespräch in die Seiten. Ihre Wichtigkeit verbietet ihnen bis auf weiteres das nutzlose Vergraben ihrer Hände.

Ansonsten darf in diese Hosentaschen so ziemlich alles was den Belastungen durch Bewegung und je nach Gewerk, auch Nässe standhält. Die Geräumigkeit und die Anzahl der Taschen ist folglich ein weiterer wichtiger Parameter einer ordentlichen Arbeitskleidung. Oft ist es angebracht mehrere verschiedene Taschen zu haben. Bestimmte Taschen sind dann bestimmten Gegenständen zugeschrieben. Arbeite ich beispielsweise an den Bienen, ist das Handy in der unteren Beintasche, darüber der Stockmeisel, links der Besen. In den Hosentaschen ein Konglomerat aus mit Bröseln verklebten Propolis und Schrauben, selten auch Bonbons, manchmal bereits mehrmals mitgewaschen. In der Werkstatt ist die Zusammensetzung vollkommen anders. In der oberen Tasche finden sich gerade benötigte kleinere Werkzeuge zusammen mit dem leidenden Handy ohne Schutzhülle. Der Audio Ausgang ist mit irgendetwas verklebt und ich feiere jeden Tag die Erfindung von Bluetooth. Was sich wo findet ist somit zwar nicht statisch, verschiebt sich jedoch nur langsam, ist es doch notwendig, mit einem Griff den richtigen Gegenstand zu erwischen.

H. und B. hingegen nutzen Arbeitskittel. Mir ist es schleierhaft wie die geringe Anzahl an Taschen ihnen ausreichen können und die Rockschöße die sich wie ein Kleid um die Beine schmiegen und überall hängenbleiben können, erscheinen mir auch nicht sonderlich praktisch. Auf der anderen Seite bleibt der Kittel in der Werkstatt, die Hose, inklusive zwischengelagerter Werkzeuge kommt mit nach Hause. Dort findet sich dann alles mögliche, von der Nuss bis zum Schraubenzieher und wird regelmäßig zu Hause vergessen. Ich besitze noch immer eine Gartenschere aus meiner ersten Arbeitsstelle, markiert mit dem längst in Insolvenz gegangenen Firmennamen. Die Hose ist also ein Zwischenlager verschiedenster Art um sich Wege zu ersparen. Im kleinen Rahmen ersetzt sie den Werkzeugkasten, die Brotzeittüte und den Geldbeutel. Ausreichend Kleingeld und zerknüllte Scheine sollten für unvorhergesehene Hungerattacken immer vorhanden sein. Der Geldbeutel selber hat in der Hose nichts zu suchen. Er ist zu unförmig und ist durch Nässe, Brandlöcher usw. viel zu gefährdet. Eine Hose ist also nicht nur Hose sondern ein multifunktionaler Gegenstand.

Hat man sich einmal für ein Modell entschieden, bleibt man meist dabei. Sinnvoll ist es sich saisonal angepasst auszustatten. Für den ambitionierten Hobbybastler sind zwei lange, eine kurze und eine gefütterte Variante zu empfehlen. Am besten bleibt man dabei beim gleichen Modell und der gleichen Größe, und  es sollte auch nicht vergessen, dass im Winter die lange Unterhose und der interne Wintervorrat um die Bauchgegend hineinpassen muss.  Aber irgendwann wird auch der beliebteste Kittel dünn, die Knöpfe spannen, oder Knie und Hintern werden fadenscheinig.  Auch die Farbe ändert sich mit der Zeit und kann in zwei Richtungen changieren. Einerseits verblasst diese, meist an den übernutzten Stellen wie Knie und Hinterteil, auf der anderen Seite kommen unauslöschbare Flecken hinzu. Je nach Einsatzgebiet können diese von grün über braun bis schwarz variieren. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Hose und Kittel  der erweiterten Funktion eines Lumpens nachkommen müssen. Dreckige Hände dürfen durchaus an den Hosen abgeschmiert und trocken gerieben werden. Eine gute Hose trocknet schnell, nimmt aber auch Feuchtigkeit angemessen gut auf um als Handtuch fungieren zu können. Durch diese variablen Einsatzgebiete wird die Hose bis zum vollkommen Leistungsabfall, sprich dem Reißen, genutzt, selbst wenn schon lange die neue im Schrank hängt. Die Neue hat sich noch nicht perfekt an den Körper angepasst. Erst unzählige Arbeitsstunden modellieren den Stoff um den Körper und beulen an den richtigen Stellen aus. Aber irgendwann ist es soweit. Die Alte rutscht in der Hierarchie von der einzig Geliebten hinab zum Lappen. In Streifen gerissen, wird sie noch dringend gebraucht, aber ihr Zustand in Fetzen auf der Werkbank zu liegen, ist weit entfernt von der symbiotischen Einheit Arbeiter zu Arbeitshose. Eine neue muss her, oder liegt bereits im Schrank. Wird das Modell  jedoch nicht mehr hergestellt ist das Heulen groß und die Suche  nach dem einzig wahren Kleidungsstück muss von vorne beginnen. Weiß man, was hinter den Menschen die in den einschlägigen Kaufhäusern komische Gymnastikbewegungen vollziehen, steht, sieht man auch immer den Abschied der dahinter steht. Und die Neue ist immer erst einmal ein schlechter Abklatsch der Alten, bis auch sie sich im Rad der Hierarchien weiterdreht.