Der Kaufprozess

 

Auf den ersten Blick ist der Kaufprozess keineswegs interessant oder beachtenswert. Erst wenn man sich genauer damit beschäftigt werden wiederkehrende Strukturen sichtbar. Das Kaufgeschehen besteht dabei nicht nur in der reinen Geldübergabe, sondern fängt bereits vor der Werkstatt an. Aufgrund der Pandemie warten die Kunden bei jedem Wetter vor der Tür und werden einzeln hereingebeten, was dem Ganzen Ablauf ein wenig das Ansehen eines  ungebetenen Besuchs verleiht. Kaum einer wartet alleine und es handelt sich fast durchgehend um Männer, häufig von ihren Kindern begleitet. Ist mehr Andrang, steht einer von uns Mitarbeitern vor der Tür und koordiniert die Reihenfolge der Eintretenden und kontrolliert nebenbei das Tragen der Gesichtsmasken, auch außerhalb der Werkstatt. Natürlich ist dies absurd, werden doch im Ankerzentrum, in dem die meisten Kunden leben, keine Masken getragen.  Die Werkstatt, unter einem Hallenbad in einem kleinen Wohngebiet untergebracht, wird von den Anwohnern jedoch durchaus beobachtet und es gab bereits Beschwerden aufgrund der nicht eingehaltenen Maskenpflicht.  Und so haben D. und ich, da wir Englisch sprechen, und meist im Kundenbereich tätig sind, auch ein Auge auf die Maskenpflicht.

Der Verkaufsraum im Keller wird von H. mitbetreut, Werner und Bernd stehen für Rückfragen im Werkstattbereich zur Verfügung. Die Aufgaben sind relativ klar verteilt, können sich jedoch je nach Kundenbesuch anpassen. Ist nicht viel los, stehen auch D. und ich in der Werkstatt. Gibt es mehr zu tun, oder ergeben sich fachspezifische Fragen die ich nicht klären kann, kommt auch W., der stillste von uns allen, zum Helfen in den Verkaufsbereich. Be jedoch bleibt  B.durchgängig  im abgesperrten Arbeitsbereich und koordiniert anfallende Reparaturen. Das Kundenaufkommen variiert stark und scheint mehr oder weniger wetterabhängig zu sein. Dennoch gibt es sonnige Tage an denen kaum Käufer kommen. An manchen Verkaufstagen stehen  bereits Wartende mit ihren kaputten Fahrrädern am Treppenabgang, Gespräche werden geführt und die Kinder müssen vom Parkplatz zurückgepfiffen werden um nicht von hereinfahrenden Autos gefährdet zu werden, während einer der Mitarbeiter die schwere Brandschutztür aufschliesst.

Noch vor der Werkstatt werden erste Kundenwünsche geklärt. Diejenigen mit Fahrrädern in den Händen, werden bereits als schwierige Kunden von uns identifiziert. Das ist vollkommen unabhängig von der Person, sondern liegt an der Sache an sich. Ein Kunde mit Fahrrad benötigt entweder eine Reparatur oder  möchte einen Umtausch vornehmen. Beide Situationen sind konfliktbehaftet und daher von den Werkstattmitarbeitern entsprechend ungeliebt. Theoretisch soll jedes bei uns gekaufte Fahrrad zurückgenommen oder repariert werden können. Die Fahrräder sind markiert und werden mit einem selbsterstellten Pass herausgegeben, der im Idealfall auch für die Reparaturanfrage vorhanden ist. Da auch die Fahrräder selbst markiert sind, einmal durch eine eingeschlagene Nummer und weiterhin durch einen silbernen Farbstreifen um das Sitzrohr, erkennen wir diese auch ohne Papiere als die „unsrigen“ und werden von uns instand gesetzt oder getauscht. Reparaturannahmen sind die allen voran unbeliebtesten Transaktionen und zwar keineswegs aufgrund der vorzunehmenden Arbeiten. Der Zustand ist häufig um einiges schlechter als von den Kunden beschrieben. Es kam bereits mehrmals vor, dass beispielsweise nur die Schaltung repariert werden sollte, bei näherem hinsehen aber auch Bremsen, Lichter usw. defekt waren. Da die Werkstatt ausschließlich Fahrräder verlassen, die der Straßenverkehrsordnung entsprechen und im Vorfeld kaum Zeit ist, Reparaturen detailgenau durchzusprechen, können sich Reparaturkosten schnell auf ein für den Kunden unangebrachtes Maß erhöhen. Im Schnitt kostet ein Fahrrad 35-45 Euro, sind die Reparaturkosten etwa gleich hoch und  konnte davor nicht klar kommuniziert werden in welcher Preisklasse sich diese bewegen, ist die Akzeptanz der angefallenen Kosten nicht immer vorhanden. Und dennoch steht der Arbeitsaufwand in keiner Relation zu den Preisen die verlangt werden und unterbietet bei weitem die marktüblichen Werkstattkosten. Überhaupt H. sieht in bestimmten Situationen die Wertschätzung seiner Arbeit den Bach runter gehen, werden Diskussionen über die zu zahlenden Beträge geführt. Die Balance zwischen der Wertschätzung der Mitarbeit und den finanziellen Möglichkeiten der Kunden ist folglich nicht immer einfach. Ein Fahrrad vor der Werkstatt ist also immer mit der Option auf Unverständnis und im schlimmsten Fall Ärger verbunden. Möchte der Kunde keine Reparatur vornehmen lassen, besteht für ihn die Möglichkeit sein defektes Rad gegen ein intaktes aus dem Verkaufsraum einzutauschen. Das Alte wird dabei in Zahlung genommen. Je nach Zustand erhält der Kunde den vollen Kaufpreis, abzüglich fünf Euro Tauschgebühren, zurück. Außer bei Kinderrädern, die aufgrund der Größe getauscht werden, ist der Zustand häufig zwischen dringend reparaturbedürftig und nicht mehr fahrbar. Entsprechend erhält der Kunde, oft nach zäher Diskussion, nur einen Teil des Kaufpreises zurück. Je weniger Kundschaft wartet, umso entspannter können diese Diskussionen geführt werden. Pro Kunde wird etwa eine halbe Stunde veranschlagt. Vergleicht man dies mit freien Werkstätten, ist dies ausserordentlich wenig Zeit sich für ein Fahrrad zu entscheiden oder ein detailliertes Beratungsgespräch zu führen.

Ist der Besucher die paar Stufen in unseren Kellerraum herabgebeten worden und somit Teil unseres Reichs, muss zuerst evaluiert werden was er benötigt. Schwierig wird es, sucht er nicht für sich, sondern zum Beispiel für die zu Hause gebliebene Ehefrau oder die Kinder ein Fahrrad. Von daheim losgeschickt, mit dem Auftrag ein ordentliches Rad zu besorgen wird er von uns häufig wieder nach Hause beordert, den passenden Fahrer oder die Fahrerin mitzubringen, muss ein Fahrrad doch genauso  wie ein paar Schuhe anprobiert werden. Sucht die Person für sich ein Fahrrad, wird ihm gezeigt welche bereits zum Verkauf stehen und welche noch auf die Reparatur warten. Angedacht ist, dass sich im Verkaufsbereich nur Fahrräder befinden die auch herausgegeben werden können, aber der Werkstattbereich spuckt immer wieder unrepariertes Richtung Verkauf. Beide Bereiche umkämpfen hart ihren Hoheitsbereich, wobei grundsätzlich die Werkstatt gewinnt. Dem Kunden ist dieses System natürlich nicht bewusst und versucht immer wieder Räder mit Platten Reifen, ausgehängten Bremsen und gerissenen Sätteln zu erstehen. Im Keller dürfen die Fahrräder nicht Probe gefahren werden und ein umständliches wechseln zwischen Tageslicht und Kellerluft erwartet den Kunden. Meist ist jedoch, sobald Probe gefahren wurde, der Entscheidungsprozess weitestgehend abgeschlossen. Es wird noch versucht ein wenig zu handeln und so gerne ich auch selber feilsche, gibt es hier keinen Rabatt. Damit wird versucht  gerechte und stabile Preise zu erhalten. Dafür wird jedem Fahrrad ein Schloss und falls nicht bereits ein Licht mit Seitendynamo vorhanden ist,  ein batteriebetriebenes Licht dazugegeben. Jeder der sich schon einmal mit  sirrendem Seitendynamo milde flackernd und keineswegs sinnvoll leuchtend einen Berg raufgequält hat, zieht das Batterielicht dem Dynamo vor. Ist dieser jedoch vorhanden, gibt es auch kein Batterielicht. Doppelt ist nicht. Für die Kinder wird versucht einen Helm zu finden, der einigermaßen passt und kostenfrei auf den Kinderkopf geschnallt. Dieter wird dabei ab und zu sein Herz geklaut, wenn er großäugigen Zwergen den Helm unterm Kinn festklippt, ganz vorsichtig um nicht fies die Haut einzuzwicken. Ich erinnere mich an ein Mädchen, die daraufhin sogar durch die Werkstatt radeln durfte, D.s Herz flatternd im Schlepptau, anstatt schimpfend an der Schulter gepackt zu werden. 

Ist dieses ganze Prozedere abgeschlossen, wird eine Quittung ausgestellt und der vorgedruckte Fahrradpass ausgefüllt. Dies ist der Augenblick für letzte Diskussionen und Umtäusche, vor denen ich mich jedes Mal ducke, ist doch das Geschäft eigentlich bereits unter Dach und Fach. Noch immer verstehe ich nicht genau warum exakt zu diesem Augenblick noch einmal ein Rad überprüft oder getauscht wird, oder ein Mangel  angemahnt wird, vermute aber es liegt an der freien Zeit. Der Kunde steht herum, hat eigentlich nicht mehr wirklich etwas zu tun, während ich über dem Schreibtisch gebeugt dasitze und fängt an mit den Finger den Reifendruck zu prüfen oder sieht da hinten links im Eck ein  interessanteres Rad und macht mich natürlich darauf aufmerksam. Und so beginnt in manchen Fällen das Prozedere von vorne, währenddessen ein Trupp Kunden an der Treppe warten.

Ein weiterer für mich unangenehmer Punkt ist, dass ich die Ausweise der Käufer verlangen muss um Namen und Adresse in den Fahrrradpass einzutragen. Jedes Mal denke ich gleich als Hochstapler enttarnt zu werden, der unautorisiert Informationen einfordert und bin immer aufs Neue verwundert dass mir selbstverständlich  die Aufenthaltsgenehmigung oder der Ausweis entgegengestreckt wird. Ich kann nur vermuten wie häufig und zu was für unpassenden Gelegenheiten die Menschen nach ihren Dokumenten gefragt werden, dass ich diese so fraglos in die Hand gedrückt bekomme. Ist auch das erledigt, erhält der Kunde, und nur ganz selten ist es eine Kundin, den Ausweis und die ausgefüllten Papiere, wir begleiten ihn mit dem neu erstandenen Fahrrad die Treppe hoch und entlassen Fahrrad und frischgebackenen Besitzer durch den mit Flatterband abgesperrten Aufgang in die Freiheit. Der bleibt dann meist noch oben bei den Wartenden stehen, das neuerstandene Fahrzeug wird begutachtet und noch ein kurzes Gespräch geführt, während wir schon den nächsten Kunden in unsere Höhle bitten.