Die Schönheit von Werkzeug, Arbeitsabläufen und Ersatzteilen

 

Arbeitsmaterialien sind in erster Linie zweckmässig und für eine vorgesehene Bestimmung an ihrem Ort. In „Dinge als Herausforderung“ eine Herausgabe mehrerer EthnologInnnen, wird diese Materialität in all ihren Facetten beleuchtet. Und auch für die Thematik des Fahrrads ist dies fruchtbar und passend. Werkzeuge, Fahrräder und Bauteile werden genutzt, geliebt, für bestimmte Zwecke gebraucht und können ihre Materialität vom dringend benötigten Gebrauchsgegenstand hin zu Schrott oder Müll wandeln. Das Fahrrad ist durch seine verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten zwischen Statussymbol, Transportmittel und Sportgerät fast schon ein Paradebeispiel dafür. Auch seine unterschiedlichen Bauteile und benötigten Spezialwerkzeuge lassen eine weite Betrachtungsamplitude der Materialität zu. Fehlen Ersatzteile, überhaupt in der Restauration, können Dinge aus dem Metallschrott herausgezogen, wieder nützlich und mitunter sogar ausgesprochen wertvoll werden. Es ändert sich folglich nicht nur die Nutzung, sondern damit einhergehend auch der monetäre Wert. Auch das Zweckentfremden, also die nicht vorgesehene Nutzung von Bauteilen und Werkzeugen wird im Bereich Zweirad, speziell im nicht-professionellem Bereich immer wieder angewandt.

Der Subtext des Materiellen ist bereits vielfach ethnologisch bearbeitet worden, unter anderem von Valerie Hänisch und Kurt Beck. Kaum zur Sprache kommt dabei jedoch die Ästhetik von Gebrauchsgegenständen, die auf mehreren Ebenen möglich ist. Die Ebene des Designs ist damit die offensichtlichste und wird entsprechend auch am breitesten genutzt. Gebrauchsgegenstände, vom Besteck bis hin zum Auto, werden durchdesignt und deren Marktwert dadurch gesteigert. Im besten Falle wird das Prinzip „Form follows funktion“ angewendet. Dies besagt, dass zuerst die Funktion gegeben sein muss, darauf aufbauend wird das Aussehen angepasst. Hübsch alleine reicht nicht. Es muss in erster Linie funktionieren. Ästhetik ist jedoch auch ausserhalb des gewollten Designs zu finden und wird meist nicht bewußt erfasst. Nicht jeder wird in einem Werkzeug dessen Schönheit sehen. Dabei ist die Ästhetik, im besten Falle mit einer sinnvollen Ergonomie gekoppelt. Unter meinem persönlichen Werkzeug befindet sich ein kleines rundes Metallteil mit Aussparungen, um die Speichen am Laufrad nachzuspannen. Bei näherem hinsehen bemerkt man die eingestanzten Nippelgrössen, auf dem Metall. Die 13 kommt vor der 11 und die 10 steht zwischen 12 und 15. Das Auge, gewöhnt an harmonische Reihungen, die kognitiv leicht speicherbar sind, stört sich daran. Auch ist dadurch nicht klar, ob nur die Stanzung verschoben ist und ob diese mit den Aussparungen zum Spannen übereinstimmen oder nicht. Hier wird das Prinzip „Form follows Funktion“ in „No form, maybe funktion“ verkehrt. Design kann also in den Nutzen hineinwirken, bis hin zu dem Punkt, an dem dieser beeinträchtigt wird. Ein für die gleiche Arbeit entworfenes Werkzeug befindet sich in der  Fahrradwerkstatt in P.. Dieses hingegen weist vollkommen andere Merkmale auf. Abgesehen davon, dass die Oberfläche bereits eine Patina hat und sicher bereits seit einigen Jahren in Benutzung ist, liegt es darüberhinaus sehr angenehm in der Hand.  Es besteht aus einer Metallplatte, die sich in der Mitte verjüngt und in sich, um 180 Grad verdreht ist. Am oberen Ende ist ein flacher  Metallzylinder, der gedreht werden kann und in dem sich die Aussparungen für die Speichennippel befinden. Die fachgerechte Bewegung die mit diesem Werkzeug beim Speichenspannen durchgeführt wird ist rund und fließend, wobei das Werkzeug  in einer leichten Auf- und Abwärtsbewegung die zu spannende Speiche umrundet. Schon die Handhabung verbindet das Werkzeug mit dem Wort schön. Und es vereinen sich zwei Aspekte der Ästhetik in einem Gegenstand. Die Harmonie der Bewegung mit der Schönheit des Arbeitsmittels an sich. Denn Anmut besteht, wie man es auch vom Tanz kennt, durchaus abseits des Materiellen. Und nicht unähnlich der TänzerIn die monatelang eine Bewegung einübt und bis zur Perfektion beherrscht, ist dies auch im handwerklichen Bereich möglich. Die Vollkommenheit wird erst durch ständige Wiederholung möglich. Sehe ich die Männer der Werkstatt präzise ihre Hände nutzen, sind die Bewegung  meist konkret und unnützes wird automatisch vermieden. Die Hände unterstützen sich gegenseitig, die eine hält, die andere arbeitet, immer genau am richtigen Platz. Der Blick auf die Hände erleichtert es, verbal dargestellte Arbeitsabläufe umzusetzen, und die Hand-Augen-Koordination ist eine bereits wissenschaftlich bearbeitete kognitive Fähigkeit. Stellt einer der Männer eine Schaltung neu ein, baut jede Bewegung koordiniert fließend auf die Folgende auf, der Choreographie der Arbeitsschritte folgend. Dies zu erlernen ist langwierig und mühsam und die Eleganz der Handwerker ungeahnt geschmeidig.

Mir ist bewusst, dass den meisten Arbeitern und wahrscheinlich auch den Mitarbeitern der Fahrradwerkstatt diese Theorie zumindest weit hergeholt erscheinen mag, wenn nicht einfach nur lustig. Fehlt jedoch dieses lang erarbeitete Geschick, fällt es bitter auf. Einige Male kollidierte mein mangelndes Können mit einem leidenden Kettenschutz oder einer Fahrradlampe. Die Resultate waren weder im Ergebnis noch in der Darbietung ästhetisch. Nur in kleinen, häufig geübten Bewegungsabfolgen ist es mir möglich diese Schönheit nicht nur zu sehen, sondern tatsächlich zu empfinden. Springt mir etwa die Kette von der Kassette, was durch mein schlampiges Einstellen der Schaltung viel zu häufig vorkommt, ist es eine Bewegung das Rad auf den Sattel zu stellen, die linke Hand entspannt die Schaltschwinge, die rechte legt die Kette auf das Ritzel, greift auf das Pedal um und geräuschlos gleitet die Kette auf das Ritzel zurück. In der nächsten Bewegung wird das Rad wieder auf die Reifen gestellt. Dieses Fliessen der Hände, ohne darüber nachdenken zu müssen und wie eine Kommillitonin es auch für andere Arbeiten herausstellte, ist unabhängig von Müdigkeit oder Konzentration. Es ist Teil des Körpers und so natürlich wie die Abfolge von Einzelbewegungen beim Laufen. Die Ästhetik des Praktischen hört hier jedoch nicht auf, sondern kann sich auf alle Bereiche des Werkstattlebens erstrecken. Die Befriedigung wenn die selbst montierte Bremse auch tatsächlich beim nächsten steilen Berg hält, geht über die körperliche Unversehrtheit hinaus. Es ist das Bewusstsein durch seine Arbeit etwas disharmonisch quietschendes, ratterndes und klapperndes in ein sirrendes und satt einrastendes und im besten Falle bremsendes Flugobjekt verwandeln zu können.

Noch ein weiterer Punkt der Ästhetik erscheint mir wichtig. Ich erinner mich an eine Szene in der Biografie  Uschi Obermaiers. Ihr Lebenspartner war auf der Suche nach bezahlbarer Ausrüstung für eine Autoreise nach Indien. In einem von ihm besuchten Betrieb befand sich auf der Arbeitsfläche ein Brett an dem die Mitarbeiter ihre Pinsel sauber strichen. Mit der Zeit hatte sich Farbschicht auf Farbschicht angesammelt, durchscheinend, deckend, randomisiert und dennoch in seiner Zusammensetzung einzigartig und, ungewollt schön. Gewieft spendierte er den Arbeitern ein neues Brett, erschnorrte sich das bemalte und konnte es für viel Geld an den Vorstand der Firma verkaufen. Diese hingen es in den Eingangsbereich des Betriebs. Das Brett wandelte sich von einem einfachen Gebrauchsgegenstand, ohne höheren Wert, zu einem teuer erkauftem Kunstwerk. Es fand nicht nur eine Umnutzung, sondern darüberhinaus eine Wertsteigerung statt.

Ein weiterer spannender Punkt an diesem Beispiel ist, dass dieses Objekt in Gemeinschaftsarbeit hergestellt wurde. Ohne dass es den Mitarbeitern bewusst gewesen wäre, ist Schönheit in der Gemeinschaft entstanden. Was schön ist und so genannt werden kann ist natürlich durchaus individuell als auch kulturell bedingt. Gemeinschaftsarbeit mit Ästhetik zu verbinden ist an sich jedoch nichts Neues. Jedes Theaterstück lebt von der Gemeinschaftsarbeit. Dennoch ist es, aus meiner Sicht, ein unterschätzter Aspekt, dass die Gemeinschaftsarbeit an sich Schönheit beinhaltet. In der Werkstatt ist dies immer wieder bei handwerklichen Problemfällen, die nicht alleine gelöst werden können, zu beobachten. In einem Eck wartet ein recht ansehnlicher Fahrradrahmen vor sich hin. Keiner bringt es übers Herz ihn wegzuwerfen. Leider ist er praktisch untauglich, da die Vorbesitzer eine zu weite Sattelstütze in das Sitzrohr schlugen. Bisher ist es nicht gelungen die Verbindung zu lösen.  Da jedoch niemand den Rahmen wegwerfen will, lag das Teil herum, bis B. es vor einigen Wochen wieder hervorholte. Alle waren anwesend, auch D. war mit in der Werkstatt und die zwei holten den Fuchsschwanz um es längs aufzusägen und so das Sattelrohr zu lösen. Sie diskutierten und sägten und diskutierten und hämmerten. Irgendwann schloss sich Helmut, von dem Gewusel auf der anderen Seite der Werkstatt angezogen, den Beiden an und kurz darauf stieß auch Werner dazu. Der enge Gang zwischen Werkbank und Ersatzteilhäufen war überfüllt und die vier versuchten vereint das Rohr freizubekommen. Sie beratschlagten und überdachten und wendeten, ich hoffe es jedenfalls, sinnvolle Gewalt an. Es gelang nicht. Dennoch waren alle ein bisschen gelöster als sonst. Das gemeinsame Durchdenken und Ausführen der Arbeit, wenn eine Idee auf die andere aufbaut, durchgekaut und verworfen oder angenommen wird und jeder einen Handgriff zu dem Projekt hinzufügt ist, um es simpel zu sagen, schön. So kommt es vor, dass nicht das Ergebnis relevant ist, sondern der Weg zu diesem Ergebnis. Die Umarbeitung des materiellen Schrotts in ein taugliches Einzelstück, ist die Freude an der Schönheit  ineinandergreifender Gedanken und Handgriffe und das Entstehen von Neuem aus Altem.