Die Werkstatt

 

Betreten wir einen Raum ist dieser mehr als die Gegenstände die sich darin befinden. Die Temperatur, das Licht, die Gerüche, ist es aufgeräumt und ist die Einrichtung spärlich oder alles vollgestellt, all das macht etwas mit uns und beeinflusst unser Verhalten. Sind wir gerne dort, oder wissen wir mit den vorhandenen Gegenständen nichts anzufangen, gibt es Sitzmöglichkeiten und was für welche, alles lässt uns den Raum anders wahrnehmen und nutzen. In manchen Räumen setzt man sich weit vorne auf die Stuhlkante, in anderen fläzen wir auf dem Sofa. In Kirchen wird automatisch leise gesprochen. Kein Raum ist genau gleich, dennoch können Räume relativ leicht in bestimmte Kategorien aufgeteilt werden. Werkstatt kann dabei als eigene Kategorie gesehen werden. Die Bestimmung jeder Werkstatt ist Arbeit und konkreter noch die Reparatur. Hier fühlen sich diejenigen wohl, die Wissen wie man mit den Dingen umzugehen hat. Fachfremde stehen häufig unsicher im Raum, der Wohlfühlfaktor geht, wie in jeder Umgebung, mit dem Wissen über die adäquate Nutzung einher.

Die Fahrradwerkstatt in P., weist, wie jeder Raum, individuelle Besonderheiten auf. Sie liegt in einem Gebäudekomplex  im Keller der schulischen Sporthallen.  Vor einem Mehrfamilienhaus mit Parkplätzen biegt man um die Ecke und steht vor dem breiten Kellerabgang. Links und rechts der Stufen sind Rinnen um die Fahrräder nicht über die Stufen tragen zu müssen und vergisst man zu bremsen, hüpft man seinem Fahrrad die Treppen runter hinterher. In den Verkaufszeiten ist der Bereich oben mit einem Flatterband abgesperrt. Bückt sich jemand  unaufgefordert unter dem Band durch, wird er umgehend gerügt. Eine physische Grenze wurde überschritten, ohne über die notwendige Autorität zu verfügen. Unser Hoheitsgebiet ist also innerhalb des Werkstattbereichs beliebig verschiebbar. Am Ende der Stufen trennt eine doppelflügelige Brandschutztür die Werkstatt von der Aussenwelt. Mit einer Hand hält man das Fahrrad, mit der anderen zieht man vorgebeugt die schwere Tür auf, um in den Raum zu treten, den man in der Größe kaum dahinter vermutet. Die Decke ist niedrig, die Leuchtstoffröhren springen surrend  an und es riecht nach Eisen und dem Gummi alter Fahrradreifen. Ursprünglich war der Raum bereits als Fahrradgarage für Schüler gedacht. Rot auf den grauen Fliessestrich aufgezeichnete Hinweise mit Beschriftungen weisen noch darauf hin, mittlerweile durch schwarze Abriebstreifen der Fahrradreifen teilweise verdeckt. Noch immer sieht man Elemente der Geschichte des Raums. Im hintersten Eck steht eine mannshohe abgesperrte Wellblechbox, darauf liegen schwere, etwa drei Meter lange und 1,50m breite Bretter. Bevor die Werkstatt hier ihren Platz fand, wurde der Keller vom Hasenzuchtverein der Gemeinde genutzt. Auf den Brettern, zu langen Tischen aufgestellt, wurden die Hasen ausgestellt und verkauft. Als ich davon erfuhr, entstand vor mir das Bild eines vollkommen anderen Raums, als der in dem ich mich gerade befand. Zuerst Schüler, die morgens und mittags lärmend ihre Fahrräder in die Fahrradständer schoben, der Geruch nach heimlichen Zigaretten und Schülersorgen in der Luft. Einige Jahre später überwiegend Senioren die ihre mummelnden Hasen schwer auf die breiten Tische hieven, hinten ein Verkaufsstand mit selbstgebackenem Kuchen und Kaffee in riesigen Thermoskannen. Der Geruch der Tiere liegt in der fensterlosen Halle schwer in der Luft und die Stimmen der Aussteller und Käufer verschmelzen zu einem Rauschen.

 Und jetzt die Nutzung als Werkstatt. Ein selbstgezimmerter Durchgang, mit Klarsichtfolie umwickelt, trennt den Verkaufsraum vom Werkstattbereich.  „Staff only“ und arabische Schriftzeichen, die wohl das gleiche besagen, stehen auf einem ausgedruckten Zettel, der an der Zwischenwand klebt. Auf der einen Seite davon ein alter Schulschreibtisch, voller Papiere, Stifte und Quittungsblöcke an dem wir über die Formulare gebeugt sitzen um das Verkaufsgeschehen abzuwickeln. Im Verkaufsraum stehen die Fahrräder aneinandergereiht in einfachen Fahrradständern, ein Eck ist für Helme und Kleinkram wie Bälle reserviert. Noch vor dem Eingang stehen die Kinderwägen. Seitdem ich in der Werkstatt bin, wurde keiner gekauft. Dann, an der gegenüberliegenden Wand die Kinderräder und Richtung Werkstattbereich ein unkoordinierter Haufen reparaturbedürftiger Fahrräder. Erst nachdem man den Verkaufsraum durchquert hat, tritt man in den heiligen Arbeitsbereich. Nur diejenigen die eine unausgesprochene Berechtigung haben, dringen bis hierher vor. Betreten Kunden, trotz Verbotsschilder den Bereich, ziehen sich augenblicklich die Augenbrauen aller zusammen. Die Abteile stehen nicht gleichwertig nebeneinander, sondern eine Hierarchie hat sich durch die verschiedenen Nutzungen gebildet.

Mit der Zugehörigkeit zum hinteren Arbeitsbereich ist automatisch eine Solidarität verknüpft. Die Mannschaft steht dem vorderen Bereich, also dem Verkaufsbereich geschlossen, Schulter an Schulter gegenüber. Diskrepanzen werden hinten und intern geregelt. Nur eine Einladung oder eine Verbindung zu einem der Mitarbeiter ist die Eintrittskarte zu diesem Platz. Fremde stehen dann meist da und versuchen nichts von den aufgestapelten Schutzblechen und Häufen mit Laufreifen zu streifen und zum Einsturz zu bringen. Es ist eng zwischen den ganzen Ersatzteilen, den Arbeitstischen und Regalen. Kisten mit abmontierten Dynamos, Vorderlichtern, Klingeln und Reflektoren Stapeln sich. Ein riesiger Fundus an Material, eine Goldgrube für Fahrradmonteure, hat sich mit den Jahren etabliert und jedes erdenkliche Teil ist in verschiedenen Stadien der Nützlichkeit zu finden. Durch die ganze Länge des Raums verläuft ein Strang Fahrradständer der durchgehend mit Fahrrädern besetzt ist. Steht man an der Eingangstür und ruft jemanden auf der anderen Seite des Raums etwas zu, verebbt die Stimme zwischen Stahl und  Gummi. An der rechten Wand findet sich eine weitere schwere, in undefinierbaren grün-grau gestrichene Brandschutztür, die lange Zeit von mir kaum beachtet wurde. Erst als diese einmal offenstand schaute ich staunend hinein. Mir war nicht bewusst gewesen, dass sich dahinter die stille, blaue Wasserfläche des Hallenbads befindet. Manchmal kommt der Bademeister, immer in kurzen Hosen und T-shirt an seinen Arbeitsplatz und zieht die Tür auf. Der Raum dahinter ist hell und unwirklich ruhig. Das leere Bad ist eigenartig in seiner Schweigsamkeit und das fehlende Kindergeschrei und Rumgeplantsche  steht wie ausgeschnitten in der warmen Luft. Seit Beginn der Pandemie öffnet der Bademeister die Tür, kontrolliert einige Dinge, und schliesst die Tür wieder hinter sich. Obwohl hier niemand schwimmen darf, muss er seine Arbeitszeit in dem immer noch beheizten Bad verbringen. Ich stelle mir vor wie er um das verwaiste Becken geht, Runde um Runde, seines Sinns in dieser Halle beraubt und zuviele Kubikmeter Luft um ihn, um sich wohl zu fühlen. Das nicht vorhanden sein von Geräuschen ist unpassend. In einen Wald gehört Stille, in ein Hallenbad Lärm und Geschrei. Nicht nur die Nutzung eines Raums ist vorherbestimmt, sondern auch Geräusche und Gerüche sind an ihre Umgebung gebunden. Befinden sich diese nicht an ihren vorherbestimmten Ort, fällt dies störend auf.  Das Wissen dass dieser verwaiste Platz neben der vollgestellten Werkstatt ist, blau und still, ist unpassend. Die Sauberkeit des Hallenbades steht neben dem Gummiabrieb und den öligen Fahrradketten. Die Kontraste sind zu stark.