Fahrrad, Politik und Freiheit

 

Das Fahrrad, mittlerweile seit mehr als 200 Jahren Teil unserer Gesellschaft, ist weltweit in Gebrauch. Sein Erfolg kann also zweifellos als durchschlagend bezeichnet werden. Dabei wurde das Fahrrad nicht nur privat genutzt, sondern ist immer wieder zu einem Politikum geworden. Bereits 1895 befand sich eine Frau, Annie Londonderry mit ihrem Drahtesel auf einer Weltumrundung und Ann Strong bezeichnete Männer als durch das Fahrrad ersetzbar. Für viele andere weibliche Stimmen, war und ist das Fahrrad der Weg in eine neue Freiheit. Und dies war keine bloße Theorie, sondern ganz praktisch nachvollziehbar. Allein die strengen Kleidungsregeln, die das Tragen eines Korsetts beinhalteten, lockerten sich durch das Rad fahren, ist es doch mit den langen Kleidern und engen Miedern erschwert bis gefährlich das Rad zu nutzen. Aber nicht nur in der Emanzipation, sondern auch in weiteren politischen Bereichen ist das Fahrrad und seine Nutzung bis heute immer wieder Teil der öffentlichen Diskussion. Nicht zuletzt im Frühjahr 2020, während der Pandemie, als sich viele Menschen auf ihre Fahrräder in Keller und Garage zurückbesannen, um überfüllte öffentliche Verkehrsmittel zu vermeiden.  Durch den erhöhten Nutzungsdruck der Radwege entstanden in den großen Städten sogenannte Pop-up bikelines. Dabei wurden auf mehrspurigen Straßen Spuren für Fahrräder freigegeben. Der Fahrradboom durch Corona wurde so stark, dass Fahrräder und mittlerweile sogar Verschleißteile bis 2022 kaum mehr zu erhalten sind. Dass das Fahrrad nach 200 Jahren noch einen derart großen Erfolg hat, ist beachtenswert und es wert, die Gründe genauer zu betrachten.

Fahrrad fahren zu können ist weltweit fast überall eine Selbstverständlichkeit und auch in der Werkstatt des Olchinger Asylhelferkreises zu beobachten. Menschen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern suchen für sich oder ihre Kinder ein Fahrrad. Der Zugang ist weitaus niederschwelliger als zu einem Auto. Es ist kein Führerschein nötig, noch erfordert es hohe Anschaffungs- und Unterhaltskosten. Letztendlich kann sich also jeder in Deutschland ein Fahrrad leisten. So belaufen sich die Kosten in der Fahrradwerkstatt in P. auf 30 bis 45 Euro für ein voll verkehrstüchtiges Rad. Natürlich sind diese weniger als Sportgerät tauglich, dennoch können mit einigem Training mit so gut wie jedem Fahrrad gehörige Strecken zurückgelegt werden. Dies ist eines der grundsätzlichen Vorteile von Fahrrädern und Teil einer Freiheit, die sich auf mehrere Ebenen erstreckt. Mit dem Fahrrad erreicht und durchfährt man Straßen und Gegenden in denen Autos kapitulieren müssen. Die Wendigkeit und die schmale Bauart erlauben es, engste Schleichwege, genauso wie schlechte Untergründe zu überwinden und immer wieder hört man von Verfolgungsjagden mit der Polizei, bei denen die Exekutive den Kürzeren zieht. Dabei ist dem Rad in seiner Reichweite kaum Grenzen gesetzt. Weltumfahrungen sind keine Seltenheit und Distanzen von mehreren hundert Kilometer pro Tag werden von sportlichen Fahrern durchaus erreicht. Geht der Drahtesel kaputt, kann er in den meisten Gegenden der Erde ersetzt oder repariert werden. Da die Mechanik noch immer überschaubar ist, sind auch die Fähigkeiten das Rad selber zu reparieren mit einem bisschen Mühe und gutem Willen von jedem Besitzer zu erlernen. Somit ist die Nutzung nicht nur praktisch und kostengünstig, sondern fördert auch die Eigenständigkeit. Die Unabhängigkeit die sich durch die niederschwellige Erlernbarkeit der anfallenden Reparaturen ergibt, kann durchaus zu einer gewissen Emanzipation führen. Früher hiess es „Die Freiheit liegt auf dem Rücken der Pferde“ Mittlerweile könnte man durchaus sagen „Die Freiheit liegt auf dem Sattel des Fahrrads“. Die Selbständigkeit die es auch und überhaupt für Frauen mit sich bringt ist dabei beachtenswert. Der erste selbstgeflickte Reifen, ohne fremde Hilfe, ist für viele ein Erlebnis, dass sie mit Stolz erfüllt. Aus eigener Kraft wieder fahrtüchtig zu werden, kann innere Grenzen verschieben, Selbstbewusstsein generieren und Abhängigkeiten reduzieren. Vor kurzem erschien die 13jährige Tochter einer der Mitarbeiter mit ihrem selbst geflickten Reifen in der Werkstatt. Der Schlauch verlor Luft, es hatte nicht ganz geklappt, dennoch hatte sie die einzelnen Arbeitsschritte ohne fremde Hilfe durchgeführt und konnte mit Recht stolz auf sich sein. Sie hatte das erste Mal ihr Rad und in ganz kleinem Maße, damit auch ihr Schicksal in die Hand genommen. Und das nicht nur aus einer Laune heraus, sondern mit dem konkreten Ziel das Fahrrad für den doch recht weiten Schulweg zu nutzen. Das Fahrrad vergrößert also konkret den Aktionsradius und ist ein Werkzeug der Emanzipation. Dabei ist es nicht nur Fortbewegungsmittel, sondern auch Sportgerät. Durch die Bewegung und die stetige und unkompliziert in den Alltag zu integrierende Trainingseinheiten, ist es leicht, ein besseres Körpergefühl zu erlangen. Eine Grundfitness kann dabei im Nebeneffekt wie auch als Selbstzweck erlangt werden. So hat auch das samstägliche radln zum Bäcker oder das Abholen der Kinder vom Kindergarten positive Auswirkungen auf den Körper. Dabei erlaubt die gelenkschonende Sportart auch adipösen Personen die Bewegung an der frischen Luft und lässt sie eine Leistungssteigerung  erfahren. So kann auch hier das Rad zu einer Ausweitung der individuellen Freiheiten und Möglichkeiten genutzt werden. Und jeder der schon einmal wie im Sturzflug über die Landstrasse geflogen ist, kennt das kleine Glück auf zwei Rädern.  Spätestens wenn der Schweiss die Schienbeine herunterrinnt und der Schmerz aus den Oberschenkeln hinter einem herflattert, die Tränen vom Fahrtwind die Wange heruntergetrieben, die Ellbogen angelegt wie kleine Flügelchen, und das Grinsen im Gesicht das einzig statische ist, ist man dem Fahrrad komplett verfallen.