Systemrelevanz und Sinn

 

Was genau den Sinn einer Arbeit ausmacht ist für mich keineswegs leicht aufzuspüren und in Worte zu fassen. Ein möglicher Faktor für die Relevanz einer Tätigkeit ist der Mehrwert für die Gesellschaft, die eine Tätigkeit mit sich bringen kann. Ist also die Tätigkeit nicht nur für die durchführende Person nützlich, sondern auch für andere, liegt der Arbeit bereits eine gewisser Nutzen zugrunde. Googelt man Synonyme für Sinn, kommt man schnell auf das Äquivalent Nutzen. Sinn ist also gleichbedeutend mit Nutzen und Nutzen ist eng verbunden mit benutzen, also die Möglichkeit mit dem Produkt der Arbeit körperlich oder kognitiv etwas anzufangen, etwas zu tun. Sinnhaftigkeit entsteht folglich dort wo das Ergebnis der Arbeit genutzt werden kann. Entweder im materiellen Bereich wie sich dies für die Fahrradwerkstatt ergibt, oder eben geistig wie bei der Generierung von Kunst oder Wissen. Bei beiden Formen, materiell wie immateriell ist der Nutzen jedoch abhängig davon, ob das Erarbeitete anderen zugänglich gemacht wird. Streng gesagt, wenn Kunst, Literatur oder auch reparierte Fahrräder nur für sich geschaffen werden, ist die Sinnhaftigkeit geringer, als wenn mehrere Menschen von den Ergebnissen profitieren können. Es ist ein Allgemeinplatz, dass es sinnvoller ist, Fahrräder zu reparieren damit daraufhin andere durch die Gegend radeln können oder Bücher zu schreiben um sie einer Vielzahl von Lesern zugänglich zu machen, als diese ungelesen im Regal  verstauben zu lassen.

Dennoch kann Sinnhaftigkeit auch bestehen, profitiert nur eine Person davon. Das Singen in der Dusche kann durchaus Sinn machen, solange es dem Sänger Spaß macht. Spaß ist also neben Nutzen ein weiterer sinnstiftender Punkt. Dennoch erhöht der Wirkungskreis den Nutzen. Die Sinnhaftigkeit der Arbeit der Männer wird also durch die Weitergabe der Fahrräder an Flüchtlinge erhöht. Dabei ist nicht nur der Wirkungskreis, sondern auch der Wirkungsgrad  eine  bestimmende Größe der Sinnhaftigkeit. Die meisten Menschen werden dem zustimmen, dass ein Chirurg sinnvolle Arbeit durchführt, aber auch ein Verkäufer nicht in Sinnlosigkeit versinkt. Beide sind in ihrer Position wichtig. Die Arbeit des Chirurgen greift jedoch tiefer in das Leben des einzelnen Patienten ein und verändert dies stärker zum Positiven, als der Verkauf von Schuhen. Weiterhin steht hinter dem Schuhverkäufer eine hohe Zahl anderer Personen die es ermöglichen, dass der Schuh an den Kunden weitergegeben werden kann. Die Sinnhaftigkeit teilt sich sozusagen unter allen Beteiligten auf, und jeder, bis hin zum Näher und Designer, sind an der Sinnhaftigkeit des Schuhverkaufs beteiligt. Die Wirkung der herausgelösten Aktion Schuhverkauf versus der Knieoperation ist daher durchaus geringer. Der Wirkungsgrad ist somit  ebenso eine  Größe  des Sinns wie der Wirkungskreis.

Zu Beginn der Pandemie hörte man in allen Medien und Gesprächen das Wort „Systemrelevanz“. Von Anfang an mochte ich das Wort, drückte es doch genau aus, was ich mir unter sinnhafter Tätigkeit vorstelle. Die Nützlichkeit als kleines Rädchen im großen System. Als ich das erste Mal erfuhr, dass auch Fahrradwerkstätten zu den systemrelevanten Betrieben gehören freute ich mich. Das Fahrrad und die Menschen die diese wieder flott machen, erfuhren dadurch eine ungeahnte Wertschätzung. Ausserdem ist  „Systemrelevanz“  der präzise Ausdruck, der mir bisher fehlte um aufzuzeigen was mich an der Ethnologie zweifeln lässt. Durch den Anspruch jegliche Eingriffe oder Handlungsvorschläge in bestehende Ungleichheiten oder Problemlösungen zu unterbinden wird die Systemrelevanz und damit einhergehende Wirkung und Sinn unterbunden. Grösstenteils wird dies mit den Auswirkungen der Kolonialmächte auf die betroffenen Gebiete erklärt. Die Idee dahinter ist es , den Menschen ihre Handlungsmacht durch fremde Eingriffe nicht zu entziehen. Ein anderer Blickwinkel wird jedoch selten wahrgenommen. Nachdem die Kolonialmächte desaströse Zustände hinterlassen haben, wurden Menschen in jeglichen Weltgegenden, mit ihren Problemen, die diese nicht einmal hergestellt haben, alleine gelassen. Anstatt alle verfügbaren Ressourcen dafür aufzuwenden den hinterlassenen Scherbenhaufen aufzuräumen, werden, seitens der Ethnologie unter dem dünnen Mäntelchen der Postmoderne mögliche Hilfeleistungen unterbunden. Hier könnte die Sinnhaftigkeit über Wirkungskreis und Wirkungsgrad durchaus erhöht werden.

Den Bogen zur Fahrradwerkstatt des Asylhelferkreises zu spannen ist nicht schwer. In jedem Ehrenamt ist genau dies der Wichtige Teil der Arbeit, der immer im Hintergrund mitläuft. Für jeden der Männer wäre es einfacher im Fernsehsessel sitzen zu bleiben, anstatt mit schmerzendem Rücken und lädierter Schulter in der Werkstatt zu stehen. Die Fahrräder nur zu reparieren, damit diese im Keller stehen, würde der Arbeit ihres Sinns berauben. Erst die Verfügbarkeit der Räder für andere generiert den gesellschaftlichen Nutzen und macht die  Kenntnisse und die Zeit der Männer  für ihre Gemeinden tauglich und beinhaltet einen Teil der Begeisterung an der Arbeit. Der schon lange existierende und überspitzte Gedanke, jede Tätigkeit, und mag sie noch so selbstlos sein, ist durch die empfundene Freude im Grunde egoistisch, mag zwar im Kern wahr sein, ist aber dennoch kein Grund Hilfe zu unterlassen, übersteigt die gesellschaftliche Relevanz doch bei weitem den negativen Aspekt. Es kommt hinzu, dass das Negative, also der Egoismus, nur auf die handelnde Person selbst gerichtet ist. Ein negativer Einfluss auf die Umgebung ist nicht vorhanden, es ist also letztendlich für die Sinnhaftigkeit des Handelns irrelevant wieviel Egoismus dahinter steht. Nehmen wir einmal an, der Handelnde, konkreter, der Mitarbeiter der Fahrradwerkstatt unterlässt seine Hilfe, da er den theoretischen Egoismus seiner Hände Arbeit unterbinden möchte. Die Auswirkungen des nicht Handelns sind nachteiliger als das Handeln und persönliche Freude daran zu empfinden. Werden die Räder nicht von den Männern repariert, bleiben sie unfahrbar, und für niemanden sinnvoll, im Eck liegen. Es ist also egoistischer zu versuchen nicht egoistisch zu sein, als den minimalen Egoismus zuzulassen und sich über die Leistung für andere hinaus , an seiner Arbeit zu erfreuen.

Teilweise wird die Arbeit die Werkstattarbeit von Außenstehenden nicht geschätzt, was überhaupt Helmut ärgert, steht er doch zusammen mit den anderen Woche für Woche in der Werkstatt. Die Sinnhaftigkeit geht für ihn und alle anderen, aber auch für jegliches weitere Ehrenamt mit der Wertschätzung einher. Erst durch die Wertschätzung, als das Äquivalent zur monetären Bezahlung, wird ersichtlich ob und wie hoch der Sinn der eigenen Arbeit ist. Kommen die Fahrräder nach kurzer Nutzung teilweise in frappierend schlechtem Zustand zurück in die Werkstatt, um wieder Instand gesetzt zu werden und ergeben sich darüber hinaus noch Diskussionen über Preise, ist die Wertschätzung, die als Parameter der Sinnhaftigkeit fungieren kann, ausgehebelt. Die Reihung Preis, Wertschätzung, Sinnhaftigkeit ist hier ersichtlich. Der Preis, per se niedrig angesetzt, um jedem die Reparatur und den Kauf zu ermöglichen, wird von Kunden häufig versucht zu drücken. Bei den Mitarbeitern entsteht das Bild, dass die neuen Besitzer die Arbeit an sich nicht wertschätzen. Wenn die Arbeit nicht wertgeschätzt wird, kann sie nicht wichtig sein und entsprechend unnötig ist es Stunde um Stunde an den Rädern zu schrauben. Natürlich ist den Besitzern die Tragweite ihres Feilschens  nicht bewusst und ihre Sichtweise auf ihre prekäre finanzielle Situation, mit Blick auf die deutschen Straßen, mit dicken SUVs und teuren Rennrädern, durchaus verständlich, und darf nicht vergessen werden. Dennoch ist die Sinnhaftigkeit des Ehrenamts und die gesellschaftliche Relevanz so hoch, dass dies durchaus zum Thema gemacht gehört. Wertschätzung ist das mindeste was Menschen im Ehrenamt erhalten sollten. Sinnhaftigkeit kann also von Lohnarbeit vollkommen losgelöst sein.