Verantwortung und Ehrenamt

 

Während dem Schrauben an den Fahrrädern wirft immer mal wieder der eine oder andere einen Kommentar in die Runde. Nicht immer sind die Einwürfe geprägt von Harmonie und Toleranz. Und so manche Meinung teile ich keineswegs. Ich sehe es als Teil meiner Aufgabe mir diese anzuhören und nur zu kommentieren, nicht aber zu diskutieren. Und so mancher Spruch ist politisch durchaus fragwürdig. Am meisten wundert mich dies, in Bezug auf die Flüchtlingssituation. Seit fast vier Jahren stehen die Männer mindestens zweimal die Woche in der Werkstatt und reparieren und schrauben für Flüchtlinge unentgeltlich an den Fahrrädern. Niemand erhält auch nur einen Obolus für seine Arbeit. Und die Diskrepanz zwischen den Worten und  der Tätigkeit  wird dadurch umso schneidender. Mir stellt sich hier die Frage, ob etwas wie eine Legitimisation der Worte entsteht, wenn die Handlung das genaue Gegenteil des Gesprochenen zeigt. Das altruistische Handeln hebelt sozusagen den unadäquaten Wortschatz aus. Plus mal minus ergibt hier nicht minus, sondern plus. Oder ist das Wort nur versteckt unter dem warmen Mäntelchen des Handelns? Antworten auf diese ethischen und philosophischen Fragen zu finden ist unsagbar schwer.

Aber Fakt ist, die Männer stehen Woche für Woche in dem Keller, kommen bei jedem Wetter und verkaufen Räder, besorgen diese und richten sie her. Einige kommen auch ausserhalb der Öffnungszeiten um noch schnell etwas fertig zu machen, oder ein besonderes Projekt voranzutreiben. Die Arbeiten werden auch mit schmerzendem Rücken und nicht ganz heiler Schulter erledigt. Man kann sich an deren Sprüchen stören oder nicht, die Männer bewegen etwas und sind eine feste Institution in Olching. Bis vor kurzem strich man auf einem großen Papier an der Wand die fortlaufende Nummer der verkauften Fahrräder von einer Liste. Jetzt wandert ein Klemmbrett mit den Nummern durch die Werkstatt. Die letzte mir bekannte Nummer ist 563. Es wurden 563 Fahrräder besorgt, mindestens einmal repariert und verkauft. Und P. ist durchaus nicht die einzige Fahrradwerkstatt. In jeder größeren Gemeinde haben sich ein paar Menschen zusammengeschlossen und machen Räder für Flüchtlinge oder  Menschen in anderen prekären Situationen, wieder flott. Bundesweit. Und das ist nur ein gesellschaftlicher  Bereich der von freiwilligen Ehrenämtern  abgedeckt wird. In den letzten Jahren entstanden interkulturelle Gärten, Küchen, Kinderbetreuung, Sprachkurse und vieles mehr. Macht man sich bewusst wie viele Menschen, ohne etwas zu verlangen für andere arbeiten, sieht man sich in einer riesigen Menschenmenge und jeder  Einzelne trägt etwas zu unserer Gesellschaft bei. Dieses Engagement ist also durchaus keine Nische. Im Jahr 2020 waren 17,11 Millionen Menschen in einem Ehrenamt tätig, die meisten davon unentgeltlich. Die Vergütung kann jedoch bis 11 Euro die Stunde betragen. All diese Menschen übernehmen Verantwortung um aktiv unsere momentane Gesellschaft mitzugestalten. Somit ist die Frage legitim, ob Ehrenamt nicht grundsätzlich normaler Teil unseres Alltags sein sollte. Es ist eine Möglichkeit das soziale Gefüge zu beeinflussen und an der Politik vorbei, Dinge in Bewegung zu setzen. Da dies von den Bürgern selber ausgeht, sind bürokratische Schwellen häufig niedrig und die Nähe zu den bearbeitenden Problemen gegeben. Nützlichkeitsprüfungen und Machbarkeitsstudien wie sie in jeder Organisation und NGO durchgeführt werden sollten, was leider selten der Fall ist, sind dadurch kaum notwendig. Wird die Arbeit der ehrenamtlichen nicht angenommen, ist diese auch nicht ausreichend nützlich und das Engagement zerfällt von selbst.

Ehrenamt ist also einerseits denkbar als obligater Teil der gesellschaftlichen Verantwortung, auf der anderen Seite werden im hohen Masse Aufgaben des Staates von meist unbezahlten Privatpersonen übernommen. Die Einsparungen für die Gemeinden müssen sich auf enorme Summen belaufen, übernehmen ehrenamtlich Tätige doch so wichtige Rollen wie Kinderbetreuung oder auch die Sicherung der Grundversorgung. Man denke dabei an die Tafeln, die unverkäufliche Lebensmittel an finanziell schlechter Stehende verteilen. Macht man sich dies nochmals explizit bewusst und lässt es auf der Zunge zergehen, ist es durchaus schockierend. In einem der reichsten Länder der Erde bilden sich Privatinitiativen um arme Bevölkerungsschichten zu unterstützen, anstatt dass der Staat dies mit den bereits erhobenen Steuern schafft abzudecken. Wie gesagt, sehe ich die Problematik zwischen der Verantwortung jeden Bürgers seine Umgebung mitzugestalten und der Pflicht der Politik. Die Gemeinden profitieren und verschieben ihre Verantwortung Richtung Bürger. Flüchtlinge erhalten in vielen Gemeinden die Möglichkeit auf ein Sozialticket mit dem sie vergünstigt die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können. In ländlichen Gebieten sind diese jedoch oft nicht ausreichend. Ein Fahrrad erleichtert es somit Bürgerpflichten, wie Behördengänge oder auch den Weg zu Arbeit und Schule, nachzukommen. Dies zu unterstützen kann durchaus als Verpflichtung des Staates gesehen werden, die dieser jedoch auf seine bereits mehrfach besteuerten Bürger abwälzt.

Eine immer wiederkehrende Diskussion in der Werkstatt ist die Wertschätzung der Arbeit der Männer. H. war schon oft kurz davor das Handtuch zu werfen. Wenn es wieder zermürbende Diskussionen mit Käufern gab, was denn jetzt ein angemessener Preis für das ausgesuchte Fahrzeug ist, kapituliert er innerlich. Und, angesichts der Situation ist dies auch durchaus nachvollziehbar. So viele Stunden werden in dem Fahrradkeller verbracht und weder die Stadt, und in solchen Situationen auch nicht die Käufer, haben einen Sinn für den Aufwand und das Engagement, dass die Männer an den Tag legen. Es könnte deprimierend sein, würde es nicht auch Spass machen.